Heinrich Zille hat niemals, auch nur eine Sekunde lang seine
Herkunft verleugnet. Er war sich selbst und seiner Klasse immer treu.
Das äußerte sich in seiner persönlichen Haltung und war in vielen seiner
Blätter offensichtlich. Und dies war eben auch die Ursache für die große
Liebe, die ihm das Volk entgegenbrachte. Wie gütig konnten seine blauen
Augen über seine Brille hinwegschauen, wie zornig konnten die gleichen
Augen aber auch funkeln, wenn er über irgendeine Ungerechtigkeit sprach
oder davon hörte. Die gleiche Güte findet man in seinen Blättern, aber
auch den gleichen Zorn, wenn es darauf ankommt, Brutalität und Ungerechtigkeit
aufzuzeigen. Ihm konnte so leicht nichts imponieren, und er konnte sich
nicht verkneifen, auch bei den feierlichsten Anlässen seine ,,dreckigen"
Bemerkungen zu machen, die oftmals ein verlegenes Lächeln bei den Umstehenden
hervorriefen. Als Zille seinen siebzigsten Geburtstag beging, wurde
im Märkischen Museum in Berlin eine große Ausstellung seiner Arbeiten
eröffnet. Der damalige Oberbürgermeister Böß hielt die Festansprache.
Zille platzte mit der Bemerkung heraus: ,,Hören Se man uff, Oberbürgermeisterken,
mir kloppen Se uff die Schulter, um damit dem Volk zu imponieren."
Einen Tag, bevor Zille an der ersten Sitzung der Akademie der Künste
teilnahm, schrieb er mir eine Karte: ,,Morgen Akademie-Sitzung. Bin
neugierig, ob die Leute ooch mit Wasser kochen." Später hörte man
dann, wie er als ,,jüngstes" Mitglied bei
den Abstimmungen mit einem Kasten herumlaufen mußte, um die
Stimmzettel einzusammeln. Als er das eine Weile gemacht hatte, meinte
er plötzlich: ,,Sagen Sie, meine Herren, muß ick als Stift nu ooch für
die andern den Schnaps holen?" Ein ganz unakademischer Lachsturm
war die Folge. So zog Zillescher Geist in die würdigen Räume der Akademie
ein.
Der alte Zille ließ sich nichts vormachen. Er sah die Dinge klar und
nüchtern. Einen armen Teufel in seiner Not ein wenig unter die Arme
greifen zu können, bedeutete ihm mehr als aller offizieller Rummel.
,,Ich helfe soviel ich kann - Mund will esssen! und da helfe ich direkt
in den Mund." Deswegen war er manchmal Verlegern und Zeitungsleuten
gegenüber, die ihm Geld schuldeten, sehr unnachgiebig. "Ich brauche
das Geld für meine armen Leute" - das war keine Redensart.
Wie oft kam ich vor irgendwelchen Feiertagen in seine Wohnung, und er
saß an seinem Tisch, vor sich kleine Stapel mit Geldscheinen, die seine
gute Schwiegertochter mühselig eingewechselt hatte, und die, von Zille
kuvertiert, seinen
armen Leuten zugeschickt wurden. Zille wußte, daß er so nicht die Ungerechtigkeit
und die Not aus der Welt schaffen konnte, aber er wollte dazu beitragen,
in einem ihm möglichen Rahmen, den Opfern einer falschen Gesellschaftsordnung
ein wenig zu helfen.
Heinrich
Zille hat es in seiner Entwicklung zum Künstler nicht leicht gehabt.
Er hat sich alle Techniken, alle Kniffe mühselig erwerben müssen. Der
ihm vom alten Hosemann erteilte Rat, hinauszugehen auf die Straße, ins
Freie, das Leben zu beobachten, blieb ihm gewissermaßen Leitfaden während
seines ganzen Lebens als Künstler. Wo er ging und stand, auf der Straße,
in der Kneipe, auf dem Rummelplatz und in Verkehrsmitteln, in der Mietskaserne
oder in der Parkanlage, immer machte er auf kleinen Papierblättchen,
die er stets mit sich führte, seine Studien. Schnell mit wenigen Kreidestrichen
hielt er das geschehende fest, ,,notieren" nannte er bescheiden
diese Art Tätigkeit. Seine Modelle mußten nicht stillsitzen, je mehr
Bewegung, um so interessanter. Sein Hauptinteresse lag an Kindern und
an Menschenansammlungen. Er zeichnete eben so wie das Leben es ihm zeigte.
Und genauso kennen ihn seine Freunde, und genauso hat ihn die Welt kennengelernt.